Wie Ikonen stehen die Betrachterfiguren im Zentrum von Gert Gschwendtners Schaffen. Ihr auratischer Ausdruck verstärkt ihre Funktion als Identifikationsfigur und fordert den Betrachter geradezu heraus, sich der eigenen Wahrnehmung bewusst zu werden.


—GINIA HOLDENER, KUNSTHISTORIKERIN
 
 
 

Er versteht sich als Beobachter des Beobachtens: Jenseits aller ideologischer Grabenkriege bringt Gschwendtner präzise und unaufgeregt auf den Punkt, was an unserer Wirtschaftsordnung in Unordnung ist.


GERT GSCHWENDTNER IM GESPRÄCH MIT OLIVER PRANGE
 
 
Herr Gschwendtner, welches ist Ihr Hauptthema?
Mein Hauptthema ist die Beobachtung des Beobachtens. Ich gehe davon aus, dass sich die meisten Menschen zu wenig bewusst sind, was sie tun, dass sie sich darüber keine Gedanken machen. Ständig glaubt wer, irgendwelche Aufgaben blindlings erledigen zu müssen, und produziert sodann einen Unfug nach dem anderen.
 
Woher stammt Ihr Interesse?
Der deutsche Lyriker Günter Eich und die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger brachten mich dazu, mich mit dem Buddhismus zu beschäftigen. Ich war noch ein Junge damals, als Eich mir von seinen Erlebnissen in einem japanischen Zen-Kloster erzählte. Das faszinierte mich, insbesondere da der Buddhismus nicht mit Glauben, sondern mit Denken zu tun hat. Er ist keine Ideologie, der man sich sklavisch zu unterwerfen hat. Vielmehr ist er eine offene Philosophie, die auf Erkenntnis und schliesslich auf Selbsterkenntnis hinausläuft.
 
Anfang der Sechzigerjahre war der Buddhismus in Europa noch wenig bekannt.
Der Buddhismus war hier noch keine Mode, brachte mich als Zwölfjährigen aber dazu, mich zu fragen, warum tue ich eigentlich, was ich tue. Damals malte ich viel und lieh mir Bücher von der Unibibliothek aus. Ich wollte wissen, wie die Menschen zum Denken gekommen waren.
 
Wie haben Sie Eich kennengelernt?
Mein Vater schenkte ihm Brennholz für den Ofen. Eich war in den Fünfzigerjahren sehr arm. Später bekam ich von ihm Bücher über den japanischen und den tibetischen Buddhismus. Als Erwachsener half ich dann mit beim Aufbau der tibetischen Klöster in der Schweiz, am Mont Pèlerin oberhalb Vevey, und in Österreich in Feldkirch.
 
Wie hat der Buddhismus Ihr Leben beeinflusst?
Er hat mich ein Leben lang begleitet, er war mir die einzige vernünftige Denkrichtung jenseits aller patriarchalischen Systeme.
 
Sie haben die vorherrschenden Gesellschaftssysteme abgelehnt?
Sehr stark. Damals war noch alles durchsetzt von diesem ekelhaften Nationalsozialismus. Einige meiner Lehrer waren Nazis, hielten Atomphysik für eine jüdische Wissenschaft und lehnten sie ab. Die ganze Gesellschaft war noch verfilzt von reaktionärem, asozialem Denken. Das stiess mich sehr ab. Darum suchte ich nach Gegenentwürfen zu dem Wahnsinn, in dem wir lebten, und beschäftigte mich in der Folge stark mit dem Kommunismus. Wir waren eine Gruppe von jungen Leuten, die Das Kapital von Karl Marx lasen. Wir beschäftigten uns mit Kunst.
 
Worauf stiessen Sie?
Auf Joseph Beuys. Er war einer der weltweit bedeutendsten Aktionskünstler des 20. Jahrhunderts. Ich durfte ihn noch in seinem Atelier erleben und von ihm lernen. Aufgrund seiner Konzeption der Sozialen Plastik als Gesamtkunstwerk, in dem er Ende der Siebzigerjahre ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft und in der Politik forderte, wurde ich ein Partisan. Wir waren beispielsweise in Griechenland aktiv, warfen Flugblätter ab, sprengten Munitionslager in die Luft, aber ohne jemanden zu verletzen.
 
War das gefährlich?
Natürlich! Wir wurden auch gejagt und inhaftiert.
 
War das für Sie Aktionskunst?
Ja, das war eine Form der Aktionskunst. Es war die Deformation von Herrschaftsinstrumenten und totalitärer Herrschaft an sich. Dass das keine tragende Idee war, wurde schnell klar. Deshalb begann ich mit konstruktiveren Bildsprachen zu experimentieren. Nach 1945 wieder eine Sprache in der Kunst zu finden, war schwierig. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es Dada, aber das war keine Weiterentwicklung, das war ein Bruch. Der Versuch, über den Surrealismus weiterzumachen, endete bald wieder, nachdem beachtliche Ergebnisse gemacht wurden. Dada war aber schnell ausgelutscht. Die US-amerikanischen Minimalisten gaben dann die Philosophie ganz auf und konzentrierten sich nur auf die Materie, die sie dann abfeierten. Berühmt ist Robert Motherwells Ausspruch: «Wer mir in der Kunst noch mit Idealen kommt, dem schlag ich mit dem Baseballschläger auf den Kopf.» So entstand ein harmloses, nettes L?art pour l?art. Das ethische Ideal wurde durch den Geldbeutel ersetzt. Das war pervers, im wahrsten Sinn des Wortes, verdreht. Ich war damit nicht einverstanden, denn ich vertrat nach wie vor Ideale. Das Übliche war mir zu wenig. Dafür war ich zu links und zu buddhistisch. Ich wollte einen Beitrag zum philosophischen Diskurs leisten.
 
Sie haben nach Sinn gesucht?
Eher nach einer Struktur, die jeden befähigt, Sinn zu entwickeln.
 
Wie kann man sich das vorstellen?
Da möchte ich auf den französischen Philosophen Roland Barthes verweisen, der als einer der markantesten Denker im Bereich des Strukturalismus gilt. Er verwendete die Methode der Strukturanalyse, um moderne Texte, Filme, Mode, Werbung zu untersuchen. Er stellte keine Patentrezepte auf, versuchte aber, ein ethisches Prinzip zu formulieren, das nicht auf einer Ideologie fusst, sondern auf eigenen Erfahrungen.
 
Kann man das formulieren?
Das muss man sogar formulieren, damit jeder in der Lage ist, seinen eigenen konstruktiven Sinn zu entwickeln. Barthes forschte nach den aktiven Handlungsmustern und Codes hinter den Situationen und Ereignissen. Er suchte nach den wirksamen Strukturen, die Menschen dazu bewegen, Codes und Sprachen, Gesten und Ausdrucksweisen zu erfinden. Das waren Expeditionen zu den Grundlagen von soziokulturellen Strukturen und ritualisierten Handlungsmustern.
 
Sie meinen einen allgemeingültigen Gesetzestext?
Religionen pochen auf Allgemeingültigkeit, deshalb landen sie immer in Ideologien und werden rigide, auch durch dogmatische Regeltexte. Sie sind als Machtsysteme konzipiert. Die Idee, einen Gott zu erfinden, der aus dem Off entscheidet, war genial. Strukturalisten versuchen das offener zu machen, was den Nachteil hat, dass ihre Systeme wenig regulierend sind. Die meisten strukturalistischen Texte sind allerdings so fachsprachlich verfasst, dass sie keine grosse Breitenwirkung hatten und haben. Der Kapitalismus hat zwar keine echte intellektuelle Substanz, aber er fördert die emotionalen Konzepte so stark, dass eine verbindende Grundlage entsteht.
 
Dann sprechen Sie dem Kapitalismus nicht die Berechtigung ab?
Ich bin nicht zu einem Kapitalisten transformiert, erkenne aber auch, dass sozialistische Versuche gescheitert sind, weil sie nicht in der Lage waren, ein konstruktives Gesellschaftssystem hervorzubringen. Es waren Versuche, Systeme zu schaffen, in dem sich Menschen möglichst entfalten können, unter gegenseitiger Rücksichtnahme, aber mit totalitären Mitteln. Das ist Unsinn. Der Kapitalismus ist allerdings auch keine Lösung, sondern recht eigentlich eine geistige Krankheit. Immer wieder werden Menschen durch Finanzkrisen ruiniert, verlieren Arbeit und damit Lebensqualität. Die Segnungen des Kapitalismus bleiben auf jene kleinen Kreise beschränkt, die an den Quellen sitzen.
Der Kapitalismus hat uns Wohlstand gebracht.
Eben nicht allen! Nachdem kein anderes System zu beobachten ist, kann ich nicht abschätzen, ob es Besseres gibt.
 
Was wäre in Ihren Augen ein Idealkonzept?
Die Idee der sozialen Marktwirtschaft.
 
Diese haben wir doch.
Wir haben sie nicht mehr. Nach den Liberalisierungen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher haben wir die soziale Marktwirtschaft praktisch aufgegeben. Die Wirtschaft hat heute die Macht, die relevanten Hebel zu bedienen und die Politik in Geiselhaft zu nehmen. So entwickelt sich die Welt nicht weiter, weil sie keinen Antrieb hat, sich weiterzuentwickeln.
 
Die Technologiefirmen entwickeln sich zum Beispiel rasant weiter.
Gerade die Social Media sind ein Rückschritt, weil sie geistigen und reaktionären Schrott produzieren. Die Konzentration von Technologieproduktion in riesigen Konzernen ist eher eine Behinderung der Entwicklung als ein sinnvoller Fortschritt.
 
Wie meinen Sie das?
Die Digitalisierung ist zwar ein wünschbares Hilfsmittel, doch wenn sie beginnt, vorzuschreiben, wie wir zu denken haben, dann wird es problematisch. Die Entwicklung von künstlicher Intelligenz ist an einem Punkt angelangt, an dem wir anfangen, wie Computer zu agieren. Das halte ich für destruktiv. Weiterentwicklung findet ohnehin statt, doch wie wir damit umgehen, das ist die Frage.
 
Was ist Ihr Credo?
Mein Credo ist, dass friedliches Denken bei jedem einsetzen sollte. Wir müssen uns vom Konzept des Sozialdarwinismus verabschieden. Nicht jeder gegen jeden, sondern miteinander. Man hoffte, das Internet führe zu mehr Demokratie ? alle dürfen daran teilhaben. Dabei hat es zu Oligarchien geführt ? einige wenige besitzen alles. Wir wissen, der Mensch ist nicht perfekt. Doch wenn man ihm Maschinen in die Hand gibt, können sich Fehler hundertfach multiplizieren. Heute geht man davon aus, dass in einigen Jahrzehnten menschliche Arbeitskraft durch Roboter ersetzt wird. Ein altes kommunistisches Credo eigentlich. Lenin sagte, wenn wir uns vom Profitdenken verabschieden und miteinander umzugehen lernen, dann sind wir reif für den Kommunismus. Dann brauchen wir keinen Geldkreislauf, weil wir ja das, was wir produzieren, fair unter uns aufteilen, und wir produzieren das bequem mit Maschinen, den künstlichen Arbeitern, den Robotern. Diese Utopie war natürlich nie einlösbar.
 
Heute erzählen uns Leute, dass das mit den neuen Maschinen möglich wäre. Aber sie machen denselben Denkfehler, nämlich den: Wenn der Mensch seine Umwelt nicht mehr selbst gestaltet, ist er nicht mehr lebensfähig. Wenn keiner mehr Verantwortung ausübt, ja nicht mal mehr um sie weiss, verliert er seine Existenz und wird gelebt.div>
 
Sie wohnen in wunderschöner Umgebung. Sind Sie vielleicht ein Kapitalist, der sich als Kommunist tarnt?
Im Gegenteil! Ich bin ein blühender Marxist, der aber an real existierenden Gegebenheiten gelernt hat, dass es unmöglich ist, ein System durchzusetzen, wenn die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Marx war ein bedeutender Analytiker, aber kein politischer Denker. Revolutionen sind Scheinfrüchte und meist giftig. Der ehemalige Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, wollte das korrupte System ändern und ist gescheitert, weil die UdSSR nicht alleine auf der Welt war, sondern umgeben von vielen Interessensphären, mit denen er paktieren musste für die Ermöglichung einer Koexistenz. Aber das unterminierte seine Bemühungen im Inland derart stark, dass er scheitern musste. Lenin sprach nicht nur vom Mitspracherecht, sondern sogar von einer Diktatur des Proletariats. Diese ist in ein totalitäres System ausgeartet. Das war der entscheidende Fehler: die kommunistische mit einer totalitären Idee zu verknüpfen. Das ist wie ein schwarzer Schimmel.
 
Was gefällt Ihnen nicht am Kapitalismus?
Das Gegeneinander! Dass Menschen aufeinander losgehen. Jeder muss schneller, raffinierter, engagierter sein als der andere und ihn übertrumpfen. Der Sozialdarwinismus ist der Motor des Kapitalismus. Das ist destruktiv und kann langfristig nicht gut gehen. Der Katholizismus hat sich an den Kapitalismus angebiedert und steht jetzt vor einem Scherbenhaufen. So wie heute geht es nicht weiter. Wir sehen es an den Finanzkrisen. Es handelt sich um einen verzögerten Zusammenbruch. Ich muss Marx zitieren: «Wenn nur noch einige wenige alle anderen ausbeuten, frisst sich das System selbst auf.» Entfremdung? Ja. Entfremdung gab es allerdings früher auch schon. Aber wir haben die Situation, dass immer weniger Menschen klar ist, was sie eigentlich wollen, und sie einfach vollziehen, was ihnen gesagt wird. Dabei hatten wir mit unseren humanistischen Ideen viel erreicht.
 
Verstehen Sie sich als Humanist?
Ich halte humanistische Werte hoch und versuche, mit meiner Kunst Werkzeuge zu schaffen, dass Betrachter diese Werte erkennen und begreifen. Ich möchte sie anregen, selbst zu denken. Das sind Skulpturen und Installationen, denen man nur auf die Schliche kommt, wenn man über sie nachdenkt. Beuys versuchte ebenso, die humanistische Idee in Kunst umzusetzen. Seine Objekte regen das Denken an. Er überlegte sich bei den verwendeten Materialien, wie sie dem Denken dienlich sein könnten.
 
Wie gehen Sie vor?
Ich habe meine Welt im Kopf, aber ich gehe immer spontan an eine Arbeit heran. Ich habe Betrachterfiguren erfunden, die Autoritäten sind, die uns aus einer anderen Welt heraus beobachten. Und doch sind sie nur ein Alter Ego. Sie haben allerlei geistige Werkzeuge parat, und nicht nur ich benutze sie.
 
Quelle: "du"-Magazin, Ausgabe Juni 2016
 
 

Im Mittelpunkt meines Schaffens steht die Kultur des Betrachtens. Die Betrachterfiguren fungieren als Vehikel für eine differenzierte und kritische Selbstbetrachtung wie auch als Schutzschild gegen wütende Angsthasen, die die Grundsätze der Demokratie blindlings mit Füssen treten. Elemente des Konzeptuellen und des Absurden sind Teil meines Werkes, um das Denken des Rezipienten anzuregen. Meine bildnerische Sprache versucht die Komplexität der Wahrnehmung zu reflektieren. Stets darum bemüht, konstruktive Möglichkeiten aufzuzeigen, anstatt sich auf das blosse Aufdecken von Missständen sowie das Aufzeigen von Schreckenszenarien zu beschränken.


GERT GSCHWENDTNER
 
 
 
Im Auge des Betrachters
 
Mit seinen Plastiken, Performances und Installationen hat Gert Gschwendtner Werke geschaffen, die so politisch wie poetisch sind. Die Wahrnehmung wird bei ihm auf vielfache Weise gespiegelt und hat in archaischen Figuren ihr eigenwilliges Medium. Gschwendtners quer über die Gattungsgrenzen entstehendes Werk changiert wie das der Vorbilder Joseph Beuys und Marcel Duchamp zwischen Rationalität und Mythos.
 
von Paul Jandl
 
Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. «Sisyphos, dem Lächler» hat Gert Gschwendtner ein Denkmal gesetzt, zufrieden rollt der Künstler selbst den Stein seiner Arbeit den Berg hinan. «Betrachterfiguren» hat der 1949 im bayrischen Lenggries geborene Aktionskünstler, Plastiker und Maler in den letzten Jahren immer wieder auf den Höhenkämmen der Alpen postiert. Gelassen schauen sie hinunter ins Tal.
 
«Zum ersten Mal traf ich 1977 in meinen Vorstellungen, unter einer weitverzweigten Konsequenz, eine Betrachterfigur», schreibt Gert Gschwendtner. Ubiquitär und überall auch in der Wirklichkeit anzutreffen waren diese «Osservatori mentali», wie sich herausstellte. In den grönländischen Nuknuks, den Beterstatuen aus Uruk und selbst im Bamberger Reiter verkörperte sich eine göttliche Präsenz, «die herüberschaut in weltliche Gedankenspiele». Wer da wen betrachtet, wenn der Mensch vor Gschwendtners Figuren steht, bleibt offen. Die Augen der Figuren können eindringlich sein oder sie wirken entrückt, schauend spiegeln sie den Betrachter wider. Dass sie damit auch das Zusammenspiel von Kunst und Wahrnehmung thematisieren, ist nicht der geringste ihrer Effekte. Aus Gips, Holz oder Stein sind die Betrachterfiguren gearbeitet. Sie sind archaisch und dabei so modern wie die Plastiken Giacomettis. Die Essenz des Menschlichen wird in ihnen sichtbar und der Mythos spürbar. Mitunter ist dieser auch direkt angesprochen. Eine Artemis-Statue für den Park der Villa Tivoli, Meran, hat Gert Gschwendtner 2004 geschaffen.
 
Wenn Gschwendtners Werk auch konkrete Poesie ist, dann in einem literarisch- grafischen Sinn. Eingeschrieben in die Bilder und Skulpturen ist die Schrift. Wie ein geheimnisvolles Raunen begleitet sie die Form. Sie ist Schlüssel zum Gemeinten und Rätsel zugleich. Dass Texte in Gschwendtners Arbeit eine wichtige Rolle spielen, zeigt sich nicht nur am Geschriebenen, sondern an der Literarizität von Gschwendtners Werk überhaupt. Es sind Metaphern, die immer wieder sichtbar werden, Bilder, die die Sprache beim Wort nehmen. Wie bei Duchamp gewinnen die Objekte durch die vom Künstler an sie geknüpfte Idee an Sinn. Aus der abstrakten und mikrokosmischen Einfachheit von Tannennadeln schafft der Förstersohn Gschwendtner komplexe Bilder. Wie unbekannte Schriftzeichen wirken die Nadeln auf dem Papier, kalligrafisch werden sie von der Hand des Künstlers fortgeschrieben, bis ein einziger Text entsteht.
 
Gert Gschwendtners Arbeiten funktionieren auch in einem durchaus politischen Sinn. In der Kindheit in Bayern für alle Erscheinungsformen der Repression sensiblisiert, wie der Künstler sagt, wollte er mit seinem Werk immer wieder politische Zeichen setzen.
 
Gegen den Kitsch, die technische Rationalität und die Militarisierung hat Gert Gschwendtner seine Kunst in Stellung gebracht. Vor der Münchner Feldherrnhalle wurden im Jahr 1994 zweitausend mannshohe Figuren postiert, deren Köpfe Gasballons waren. Mit einem Schnitt wurden die Ballons befreit und schwebten in den Himmel. Die Aktion hatte einen kongenialen Polizeieinsatz zur Folge. So leicht wollte man sich in München durch künstlerische Poesie nicht aus dem Konzept bringen lassen. In seinen politischen Arbeiten kann Gert Gschwendtner durchaus deutlich werden.
 
Warner vor dem Bösen sind die 2005 installierten «Gefahrenbetrachter» am Fröhlichsturm in Mals im Südtiroler Obervinschgau nicht minder wie die Arbeiten in öffentlichen Gebäuden. Unter der auf Stoffbahnen geschriebenen Deklaration der Menschenrechte hindurch mussten sich die Abgeordneten des Vorarlberger Landtags zu ihren Büros begeben. In Amriswil im Thurgau wurde 1995 der Platz vor einem Altersheim mit Betrachterfiguren vorbevölkert, im ORF-Landesstudio Vorarlberg 1994 ein «Rastplatz auf der Datenautobahn» eingerichtet. Man wird am Werk Gert Gschwendtners eine nicht untypische künstlerische Sozialisation seit den Siebzigerjahren erkennen, und doch auch eine Eigenwilligkeit, die sich behände über alle Stile und Gattungsgrenzen hinwegsetzt.
 
Von 1970 bis 1974 hat Gert Gschwendtner in München und Belgrad Kunst studiert. In den folgenden Jahren intensiviert sich die Beschäftigung mit den Werken von Joseph Beuys, der Fluxus Bewegung oder des radikalen Konstruktivismus. Marcel Duchamp ist für die Idee der Betrachterfiguren wichtig, daneben entwickelt Gert Gschwendtner seinen «Abstrakten Realismus». Erste der so genannten «Tannennadelbilder» entstehen und bilden die Grundlage einer Serie, die bis heute fortgesetzt wird. Von Gschwendtners naturnaher Moderne ist es nur ein kleiner Schritt zu seiner ironischen «Kompost-Moderne». Gert Gschwendtner ist kein Dogmatiker. Der Buddhismus steht bei ihm neben einer intensiven Auseinandersetzung mit der Hirnforschung; die in Innsbrucker und Meraner Ateliers entstehende Kunst hat in Gschwendtners Lehrtätigkeit als Architekturtheoretiker keinen Widerspruch, sondern eine organische Fortsetzung. «Architektur des Bewusstseins» hiess eines der künstlerischen Projekte. Dass auch die bewusste Wahrnehmung der Architektur zu Gschwendtners kritischem Portefeuille gehört, versteht sich fast von selbst. In Vaduz und Innsbruck unterrichtet der Künstler an den Architekturinstituten der Hochschulen.
 
Gert Gschwendtner ist Realist und Fantast zugleich. Die physikalischen Ordnungen der Welt nimmt seine Kunst wahr, um dennoch an eine Transformation der Wirklichkeit zu glauben.
 
Als «Wassermaler» ist Gert Gschwendtner bei einer Aktion in der Villa Tivoli aufgetreten. Mit Pinsel und Strohhut unverkennbar als Künstler kostümiert, schuf er ein Werk, das auf Wasser gebaut und dennoch von schlagender Konkretheit war. Mit dem Pinsel hat Gert Gschwendtner auf dem flüssigen Element gemalt. Ein verlorenes Werk, gewonnen für die Kunst. Alles fliesst.
 
Quelle: «Kunst Graubünden und Liechtenstein», Ausgabe 2, 2013
 
Austellungen | Auswahl
 
2016
«Werkzeugkoffer» in der Kantonsbibliothek Vadiana, St. Gallen
2014
«Hirnbürsten. Kitsch ist Karies im Gehirn!» in der Zahnarztpraxis Dr. Lingg, Eschen
2013
«Schattenpapiere» im Papiermuseum, Steyrermühl «Betrachter» in der Galerie Halle, Linz «Taschenhimmel», Schönenberg an der Thur
2012
«Retrospektive Gert Gschwendtner», Mezzaninstiftung für Kunst, Schaan
2011
Morgenland für eine enkeltaugliche Zukunft mit dem «Werkzeugkoffer» Ausstellung an der «Berliner Liste 2011», Schubladenmuseum, Berlin
2010
«Zufall», Klangperformance und CD-Vorstellung mit Alexis Sidoroff, Hypo Tirol Bank, Innsbruck
2009
«Installation im Bunker», auf dem Storchenbüel, Sevelen
2008
«Bestandteile von Immigrantenfiguren», Paraparaumu (Neuseeland)
Performance zu den Klausurgesprächen der Südtiroler
Landesregierung, Kloster Marienberg
«Architektur des Bewusstseins» in den Raiffeisensälen, Innsbruck
«Steine - ein Gedanke durch Kies und Preziosen», Schloss Landeck
2006
Performance «Marmordias mit Steinmusik» mit Arthur Schneiter, Natters (Tirol)
2004
Startperformance für das Hochwaldlabor, Staubern
2003
«Utopie: Verlust» Kunstverein Schichtwechsel, Vaduz
2002
«Kailash - Schnittpunkt und Wirklichkeiten», Engländerbau Vaduz
2000
«Entscheidungsraum», Friedensmuseum Lindau
1999
Performance «Mygo trifft Mypu», zum Goethe-Puschkin-Jahr, mit Dimitri Prigov, Lew Rubinstejn, Sergej Letow, auf Einladung des russischen Kulturministerium und Goethe-Institut, Moskau
1998
Aktion «Eine Stimme» für die Menschenrechte, Zusammenarbeit einer Landesregierung mit einer NGO (Amnesty International), Landhaus Bregenz
Künstlerisch politische Intervention zusammen mit dem Gouverneur von Manipur. Beginn von friedlichen Verhandlungen «auf dem exterritorialen Boden der Kunst», Imphal (Manipur)
1997
Aktion «Fluchthelfer», Amnesty International, Bahnstrecke Feldkirch - Buchs
1996
«Imaginäre Gärten», Bad Kissingen Mit dem Gerüst eines Faltbootes die ganze Stadt befahren, Stadt und Insel Chios
«Die Paradiesgärten der Wissenschaft», Installation im botanischen Garten Bern.
1995
60 Betrachterfiguren ihre beschrifteten Schatten werfen lassen und zwei musikalische Leseperformances inszeniert (Auftrag der BR Deutschland zum 50jährigen Kriegsende), Goethe- Institut, Moskau
1994
«Rastplatz auf der Datenautobahn» installiert, ORF-Gebäude, Dornbirn
2000 menschenhohe und kopfgrosse Gasballone in Appellordnung antreten lassen und durch Schnitt mit der Schere in den Himmel auffahren lassen, Feldherrnhalle, München
1993
80 Betrachterfiguren installiert und mit Kunstwanderern deren Texte abgelesen. Wilhelm Tell als Kitschimport entlarvt und Henri Dunant als eigentlichen tragischen Helden der Schweiz erklärt, zwischen Vorarlberg und Appenzell
1992
Kunstwanderweg mit Betrachterfiguren, ORF-Doku, Saminatal
1991
«Kunst und Poesie in den Alpen», Symposium, Ötztal
Auf Einladung des Kantons zu 700 Jahre Schweiz, Betrachterfiguren aus der Turmstube von Heiden schauen lassen, Appenzell
Mit vielen Betrachtern und Betrachterfiguren einen «Grenzweg» beschritten, zur Intart-Biennale, Kärnten
1989
Visuelle Gipfelkonferenz in den Schweizer Bergen mit Betrachterfiguren, ORF Abendnachrichten
1988
«Sichtschutz», Palais Liechtenstein, Feldkirch
«Schwellen», Galerie Kunst und Kommunikation, München
Mit Betrachterfiguren gefragt «Oh welche Natur?», Arte Sella, Val Sugana
1987
«Konservative Kunst», Theater am Saumarkt, Feldkirch
1986
Mit Künstlern der DDR 40 Bäume wieder begrünt, Erzgebirge
1985
«Sisyphos dem Lächler» ein «Tannennadeldenkmal» gesetzt, ZDF-Doku, Dillingen an der Donau Teilnahme an der Friedensbiennale von Robert Filiou in Hamburg
1983
«Zeltbilder» aufgeschlagen, Bilder bewohnbar gemacht und sie in den Alltag hineingestellt, um sie von der Wand und aus der Bewunderung in den geistigen Gebrauch zu holen, Trakelhaus, Salzburg
1982
«Gedankenbrücke», eine Grossskulptur in Anlehnung an Joseph Beuys installiert. Verwendet wurden industrielle Nebenprodukte, Internationales Holzsymposium, Wertingen, Bayern
Jurte mit lebensgrossen Fatschenpuppen aufgestellt. Begehbare Bilder als Auseinandersetzung mit Brauchtum, Tourismus und politischen Zwängen, Vogelweiderhaus, Bozen
Werke | Auswahl
 
2015
Eröffnung «GedankenBerg», Kunstpark auf dem Storchenbüel, Sevelen
2012
Der Besuch der «Freunde Hegels» auf dem Parcours in Sevelen
2011
«Werkzeugkoffer»
«Oikos» - Installation mit zwei Betrachterfiguren und deren Aquarellschatten
2010
«Wege», Texte und Miniaturen, Buch (Einzelexemplar), Original- Aquarelle und Schriftbilder
«Zufall» - CD: Textminiaturen mit dem Klang fallender Tannennadeln und Musik, Alexis Sidoroff am Hang (Instrument)
2009
«Kopfbilder mit Texturen und Naturalismen»
2008
«Hirnatlanten» nachgestellt und Bilder davon angefertigt «Taschenhimmel» entwickelt und sie für den Kreuzweg über Maria Waldrast verpackt
2007 - dato
Für vorsätzlich denkende Menschen Betrachterfiguren erstellt, als geistige Werkzeuge für den persönlichen Gebrauch
2006
Installation des Betrachters auf dem Fröhlichsturm in Mals «Visuelle Fragestellungen» in Zimmern des Hotels Tivoli in Meran Aufenthalt in Kalkutta: künstlerische Befragung des Lebensraumes
2004
Beginn einer begehbaren Plastik «Hotel-Utopie», Hotel Tivoli, Meran
1995
Den Platz vor einer Alterssiedlung mit beschrifteten Betrachterfiguren vorbevölkert, Amriswil TG (Kunst zum Bau)
1993
Gläserne Ballonflieger zum Schweben gebracht, dazu Fernrohre installiert, Spital in Heiden (Kunst zum Bau)
Ein «Pumpwerk» in der Raiffeisenkassa Frastanz eingebaut (Kunst zum Bau)
1992
Gipfelkreuzverhängungen mit Betrachterfiguren (zerstört)
Entwicklung eines «abstrakten Realismus» in Auseinandersetzung mit Tannennadeln
1976 - 1982
Beschäftigung mit experimentellen Texten und ihre Integration im Bildgefüge «Textfelder im Sinne der konkreten Poesie»
Beruflicher Werdegang
 
2013 - 2015
Werkstattgespräche an jedem zweiten Dienstag im Monat zu den Themen «Sprache», «Denken und Betrachten» und «Stationen am GedankenBerg»
2001 - 2012
Wöchentliche Vorlesungen an der Universität Innsbruck und Vaduz, Fachbereich Architektur
2009 - 2010
Institutionalisierung des Vereins Hochwaldlabor - Ausbau zu einem Institut zur Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Neurobiologie und Philosophie
2007 - 2008
Entwurfsdozent Architektur, leitende Inputs zum Studio2 Architektur, Universität Innsbruck.
2001 - 2006
Unterricht in Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, bildnerisches Gestalten, Sozialkonzepte und Ästhetik an der Hochschule Vaduz, Berufsmittelschule Vaduz, Kunstschule Liechtenstein und Universität Innsbruck
2001
Ausbruch einer schweren Krankheit - seither Arbeit nur noch eingeschränkt möglich
1998
Vorträge zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts und Workshops für indische Künstler, Goethe-Institut in Kalkutta
1997
Mitverfasser einer UNO- Resolution zu einer Kultur des Friedens
1992
Seminare zur Wahrnehmung, Lehrerfortbildung für Appenzeller Lehrer, Tessin
1983
Intensive Beschäftigung mit dem Buddhismus und Bindung an das tibetische Kloster Letzehof, Feldkirch
1982 - 1986
Beschäftigung mit den Werken von Joseph Beuys und den Arbeiten der Fluxus-Mitglieder, sowie den Philosophien der radikalen Konstruktivisten
Betreiben einer Keramikwerkstatt in Füssen (1976-1978)
Kunsterzieher am Bonaventura Gymnasium in Dillingen an der Donau (1978-1982)
1976 - 1982
Vorlesungen an der Lehrerfortbildungsakademie für Lehrerinnen und Lehrer höherer Schulen Bayerns in Dillingen
1976
2. Staatsexamen
Referendariat in München und Hohenschwangau
1974 - 1976
intensivere Beschäftigung mit dem Buddhismus
1974
1. Staatsexamen
Studium an der Akademie der bildenden Künste, München: Kunsterziehung (Werkstätten, Kunstgeschichte, Materialkunde, Seminare in Entwicklungspsychologie, Darstellungsmethoden) an der Ludwig Maximilian Universität: Pädagogik, Philosophie (Nebenfach), Kunstgeschichte
1970 - 1974
An der serbokroatischen Universität Belgrad: Kunstgeschichte
1956 - 1970
Grundschule und Gymnasium frühe Beschäftigung mit den Philosophien des Christentums, Chinas, des Buddhismus und des Marxismus. Geistige Unterstützung durch zahlreiche Intellektuelle, darunter Günther Eich und Ilse Aichinger
1949
In Lenggries in Oberbayern geboren